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Ich hatte ein interessantes Leben

Frau Judith Blum ließ sich im Jahr 2000 nach einer Einladung von Frau Heinelt und deren Projektgruppe ?Ehemalige jüdische Schülerinnen unserer Schule? auf ein Gespräch ein. Leicht fiel ihr diese Entscheidung nicht. Der große Schmerz über alles, was ihr genommen und angetan worden war, veranlasste sie zunächst zu einem Nein. Der gleiche Schmerz und das Bedürfnis, dem geschundenen, toten Vater die Ehre zu erweisen, für ihn zu erzählen, was war, ließ sie dann doch zusagen.

Judiths Wunsch war, nicht Deutsch sprechen zu müssen. Ich habe noch lebhaft in Erinnerung, wie die Schülerinnen, in der Intention, diesen Wunsch zu erfüllen, mit ihren deutsch-französischen Lexika kämpften. Deren Betroffenheit und Sensibilität, das ehrliche Interesse und Entsetzen, dass auch Kaiserslautern, Ort des verschuldeten Grauens war, dass Kaiserslauterer Bürger schuldig geworden waren, all diese Emotionen in den Schülerinnen ließen in Judith einen Funken Hoffnung fallen, Deutschland möge Zukunft haben und die Juden wenigstens ein wenig Vergangenheit. Sie begann, Deutsch zu sprechen.

Zum Treffen der eingeladenen ehemaligen jüdischen Schülerinnen kam sie wieder, in unseren Augen ein anderer Mensch, in ihren Augen freier von der von Schmerz getragenen eigenen Ablehnung gegenüber Deutschland. Das Treffen hinterließ in allen Beteiligten eine tiefe Erinnerung an eine gewaltige Spannung zwischen Leid und Versöhnung, Vertriebensein und Wiederertasten der alten Heimat.

Auf ihre Einladung hin, besuchten wir, Sr. Bernharda und ich, im Frühling 2005 Frau Judith Blum in ihrer neuen Heimat in Paris.

Ihre vornehme Gastfreundschaft und ihre ausgesprochen sensible Höflichkeit, die wir auch bei den anderen jüdischen Frauen wahrnehmen durften, schufen eine offene Atmosphäre, in der ich einer großen Frau begegnen durfte: Immer wieder aufs Neue ergriffen, hörte ich Teile ihrer Lebensgeschichte:

Als Kind wohnte sie in der Königstraße. Auf der Schaukel im Garten rief sie einmal begeistert aus, als sie besonders hoch hinaufkam: ?Mama, ich sehe die Marienkirche und die ganze Welt.? Aus dieser kleinen Welt wurde sie vertrieben, grausam und entwürdigt vertrieben, und sie gewann eine neue, große Welt, eine Welt, die sie selbst gestaltete, in der sie Freiheit fand:

Im November 1938 wurde ihre Wohnung zertrümmert. Sie selbst konnte 14-jährig zu ihren Verwandten nach Frankreich fahren und ?durfte so überleben?, das waren ihre Worte. Ihre ältere Schwester  und ihre Eltern hatten nur noch den Tod vor sich und der kam in grausamer Langsamkeit über viele Stationen wie Konzentrationslager, Gefangenentransporte, ?Entsorgung? wegen Entkräftung. Judith ging durch Tiefen der Trauer, des Hungers, der Entwurzelung und Heimatlosigkeit, stellte sich in den Dienst der anderen. Sie lehnte den ersten Heiratsantrag ihres späteren Ehemannes ab, doch dieser ließ zu ihrem großen Glück, wie sie 80-jährig gesteht, nicht locker.

 

In Paris schloss sie sich der dortigen jüdischen Gemeinde an und wählte den Namen Judith. Mittlerweile verheiratet, begann sie in einer Parfümerie zu arbeiten, zunächst als Putzfrau, dann als Verkäuferin, als Geschäftsführerin. Nach dem Tod der Besitzer kaufte sie den kleinen Laden und begann mit Kreativität und gutem Geschmack (Geruchssinn) mit Einkäufen direkt beim Erzeuger. Sie reiste durch Europa, kaufte und verkaufte, vergrößerte ihr Geschäft zum Großhandel und wurde zur führenden Parfümeriebesitzerin in Paris.

Privat erlebte sie mit ihrem Mann, selbst Jude, eine glückliche Zeit, von der sie heute noch erfüllt ist. Er hat heilen können als der, der das Leid selbst miterlebt hatte. Es bleiben aber Wunden, die nur durch Versöhnung zu heilen sind.

 

Nie sind mir Lebenskultur und Bescheidenheit, die schon erwähnte Höflichkeit und Sensibilität so nahe beieinander begegnet.

Das Nebeneinander von tiefstem Schmerz und der hart errungenen Bereitschaft zur Versöhnung mit der 3. Generation der Deutschen, unseren Schülerinnen, erfüllen uns alle, die wir ihr begegnen durften, mit großer Dankbarkeit und Hochachtung.

 

Wie viel Weisheit und Stärke liegen in der Aussage dieser Frau:

?Ich hatte ein interessantes Leben.?

 

Sr. Wiltrud Frisch

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