Franziskus begegnet dem Aussätzigen
oder: Die Entdeckung der ganzen Wirklichkeit
- Die gesellschaftliche Situation
Aus mittelalterlichen Quellen wissen wir, was es damals bedeutete, an Lepra erkrankt zu sein: War die Krankheit im ?Siechenbrief? festgehalten, so galt der Betroffene fortan als tot und musste abgesondert, ?ausgesetzt? von der Gesellschaft sein Dasein fristen. Der Erkrankte erlebte seine Ausgrenzung vom Leben in Form einer feierlich vollzogenen Totenmesse, einem Requiem zu Lebzeiten. Dort wurde ihm gesagt, unter welchen Vorzeichen ihm ab jetzt nur noch zu existieren erlaubt war: ?Es ist dir von nun an verboten, eine Kirche zu betreten, einen Markt, eine Mühle oder einen Bäckerladen noch sonst irgendeine Versammlung von Menschen. Wenn dich einer anspricht, antworte ihm nur aus Entfernung. Du selbst darfst niemanden ansprechen.? Aussätzige bekamen nach dem Requiem vom Priester einige Gegenstände überreicht, darunter eine Klapper, mit der ihnen begegnende Gesunde gewarnt werden sollten, sodass diese die Flucht ergreifen konnten. Größere Städte leisteten sich abgeschiedene Leprosorien, in kleineren Orten vegetierten die Aussätzigen in elenden Hütten auf dem freien Feld
Aussatz zu haben hieß also:
Aus der feudalen Ordnung geworfen zu sein,
ohne Hoffnung auf Rückkehr.
- Die Reaktion des heiligen Franziskus
Franziskus blickt in seinem Testament, das er im September/ Oktober 1226 einem Mitbruder diktierte, selbstkritisch auf sein Leben zurück. Zunächst hatte er sich den Verhaltensmustern seiner Zeit angepasst und sicheren Abstand zu den Leprösen vor den Toren seiner Heimatstadt Assisi gehalten. Es kam ihm ?bitter vor, Aussätzige zu sehen?. Also mied er jede unnötige Bitternis. In der ersten Lebensbeschreibung des Biografen Thomas von Celano, verfasst um 1228/29, ist zu lesen, ?dass er sich mit der Hand die Nase zuhielt, wenn er zur Zeit seines Weltlebens aus einer Entfernung von zwei Meilen ihre Häuser nur sah? (Kapitel VII).
Eines Tages aber begegnet Franziskus einem solchen Aussätzigen persönlich. Er spürt, dass er dem Unbequemen nicht länger ausweichen soll, überwindet seine Aversion, gibt seinem Herzen - nicht wie bisher dem Pferd - einen Stoß und unterbricht seinen Ritt. Er steigt vom hohen Ross nach unten in die Wirklichkeit des Armen, umarmt ihn und empfindet , wie er es in seinem Testament nennt, dass ?das, was [ihm vorher ] bitter vorkam, [jetzt] in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt? (Test) ist. Der Blickwechsel führt ihn zu einer veränderten Wahrnehmung des anderen und damit zu einer veränderten Selbstwahrnehmung. Aber es bleibt nicht bei der einen spektakulären Tat: Von jetzt an sucht er immer wieder das Leprosorium auf, um den Kranken seine Dienste anzubieten. Er läuft nicht mehr in heile Welten davon, die sich gegen jede Berührung mit Leid, Armut, Krankheit, Elend möglichst dicht abschotten. Er hat einen Perspektivenwandel vollzogen.
- Zum Beispiel: Einige Fragen, denen wir uns an einer franziskanisch orientierten Schule stellen müssen
- Wer sind die ?Aussätzigen? heute ? in unserer Schule ? in unserer Stadt- in unserem Land ? in unserer Welt? Welche praktischen Konsequenzen hat das Wissen über ihre Lebenswirklichkeit für unsere Bildungs- und Erziehungsarbeit, für unser Zusammenleben?
- Wie gelingt es, den Gedanken der Solidarität mit den ?Schwachen? und der Verantwortung zu vermitteln (und in die Tat umzusetzen) in einer Zeit wachsenden Konkurrenzkampfes?
- Wie kann man solidarisch sein, ohne zu verzweifeln an der eigenen Ohnmacht?
- Wo und wie kommen die ?Aussätzigen? in den Medien vor? Wie schärfen wir den kritischen Blick, der hinter die ?Hochglanzwelt? schaut?
- ...
- ...