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13. Februar 1956, Insel Rügen

Einige Jungen aus dem Dorf Lohme waren auf der gerade zugefrorenen Ostsee. Aufkommender Sturm lässt das Eis brechen. Die drei Jungen retten sich auf den Schwanenstein. Der Sturm wird zum Orkan.

Eine fieberhafte Rettungsaktion beginnt. Fischer, Grenzsoldaten, sogar ein Hubschrauber aus Berlin sollen zum Einsatz kommen. Aber all diese Rettungsversuche werden durch die heranstürzende See und den Sturm zunichte gemacht.

Das Drama nimmt ein trauriges Ende. Am Morgen des 14. Februar 1956, die See ist spiegelblank, die Sonne scheint und es herrscht Windstille, werden die drei Jungen Helmut Petersen, Uwe Wassilowsky und Manfred Prewitz tot vom Schwanenstein geborgen.

Die Beerdigung fand auf dem Friedhof Nipmerow statt.

14. Februar 2006, Insel Rügen

Mit leblosem Blick starrte Clara aufs offene Meer. Eine Möwe pickte die letzten Krümel ihres Sandwichs auf und flog davon. Wie in Trance streifte sie ihre Weste ab und löste ihr Haar. Die Wellen umspielten sanft ihre Knöchel. Langsam watete sie ins Wasser. Es war kalt, doch sie spürte es nicht. Im spiegelglatten Wasser blickte sie in ihr Angesicht. Eine Träne hinterließ eine nasse Spur auf ihrer Wange und verschwand auf ewig in den seichten Gewässern der Ostsee.  Da erblickte sie neben ihrem Spiegelbild das verschwommene Gesicht einer jungen Frau. Gebannt beobachtete sie wie sich dieses Gesicht immer wieder bewegte, immer wieder neu geformt wurde durch die unruhige See. Clara spürte eine Träne an ihrer Wange und wollte sie wegwischen, doch da war nichts. Die Fremde weinte. Und Clara spürte es. Sie wollte das Trugbild verscheuchen, eine Ausgeburt ihrer Fantasie, und schlug mit ihrer Hand auf die Wasseroberfläche. Nichts geschah. Die Unbekannte war nach wie vor neben ihr zu sehen. Plötzlich wurde Clara sich der Kälte bewusst, die sie empfand. Zitternd ging sie in die Knie, das Gesicht der Frau war nun kaum zwei fingerbreit entfernt. Entsetzen breitete sich in ihr aus, als sie merkte, dass das Gesicht das Ihrige anzog. Von Panik gepackt riss sie sich von dem Bild los und rannte davon. Sie fühlte sich verfolgt und rannte noch schneller. Der Wind trocknete ihre Haut und das Salzwasser hinterließ weiße Ränder. Erschöpft ließ sie sich auf eine verdreckte Parkbank fallen.

Wenige Stunden später saß sie an ihrem Schreibtisch. Sie hielt ein Foto ihres Sohnes in den Händen. Liebevoll strich sie über das Gesicht ihres Kindes und verwischte die darauf fallenden Tränen. Das fahle Mondlicht fiel sanft auf ihre blasse Haut. Mit ihrer Rechten umfasste sie die kühle Klinge. Fast zärtlich führte sie das Messer zum Hals. Ein schmaler Schnitt zeigte sich an Claras Hals und Blut quoll hervor. Doch sie spürte keinen Schmerz. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. In der Fensterscheibe erblickte sie die Frau, deren Gesicht das der Erscheinung am Wasser war. Die Fremde hatte die Hände vor dem Bauch zusammengefaltet und blickte sehnsüchtig in die Ferne, die Haare hingen strähnig herab. Langsam glitt die Fremde auf sie zu. Ein kalter Lufthauch strich Claras Wange, dann war die Unbekannte verschwunden.

Zögernd fuhr Clara sich mit der Hand an den Hals. Ihre Finger ertasteten den Schnitt, doch es war kein Blut mehr vorhanden. Verwirrt und verängstigt sackte sie in sich zusammen. Das Bild ihres Sohnes fiel zu Boden und zerbrach.

Das schrille Läuten der Türklingel ließ sie aufschrecken. Benommen richtete sie sich auf. Alles, was sie gestern erlebt hatte, schien ihr nun so unreal. Der Unfall, der Krankenwagen und die Namenlose. Doch ein Blick auf ihre Kleidung gab ihr die endgültige schmerzhafte Gewissheit, dass es kein Traum gewesen war. Ihr Kleid war steif vom Salzwasser und blutverschmiert.

Langsam ging sie zur Tür. Schon die Türklinke in der Hand, besann sie sich. Sie wollte niemanden sehen. Kein falsches Mitleid von neugierigen Nachbarn ausgesprochen bekommen. Fröstelnd setze sie sich auf die kalten Treppenstufen. Es klingelte erneut. Clara ließ den gestrigen Tag in ihrem Kopf Revue passieren. Die Frau. Immer wieder sah sie die Frau vor ihrem geistigen Auge. Das Gesicht hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt. Deutlich sah sie die Unbekannte vor sich und empfand unendliche Trauer.

Plötzlich wusste sie was sie tun musste.
Sie bestellte ein Taxi.

Fieberhaft durchwühlte sie den Karton, in dem ihre Mutter alte Zeitungsartikel aufbewahrt hatte. Dann hatte sie gefunden, was sie suchte. Entschlossen schnappte sie sich ihren Mantel, schlüpfte in ihre Stiefel und nahm den Hinterausgang.

?Zum Friedhof Nipmerow bitte?, sagte Clara knapp. 10 Minuten später stieg sie aus und bezahlte den Fahrer.

Ruhig schritt sie zwischen den Gräbern entlang.
Sie suchte einen ganz bestimmten Namen. Da! Petersen.

                 Hannah Petersen
       Gestorben am 14. Februar 1956

Sie kramte aus ihrer Manteltasche den zerknitterten Zeitungsartikel und strich ihn glatt. Die Ränder waren bereits vergilbt und brüchig.
?Selbstmord nach Tod ihres Sohnes!? stand da fett gedruckt.
?Hannah Petersen ertränkt sich, nachdem ihr Sohn, Helmut Petersen, bei dem tragischen Unfall am Schwanenstein ums Leben kam.?

Sogar ein Foto von Hannah und ihrem Sohn war abgedruckt.
Die Fremde ? Hannah Petersen.

Clara traten die Tränen in die Augen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Eine Träne fiel auf den Artikel und wurde von dem trockenen Papier gierig aufgesogen.

Die Bilder vom Unfallort schossen ihr durch den Kopf. Sie sah ihren Sohn auf der Bahre liegen, umgeben von Schläuchen und Nadeln. Dann kam der Arzt. Doch sie hatte es bereits gewusst. Mit leblosen Augen hatte ihr Sohn sie angestarrt und der Arzt hatte mit mitfühlender Stimme gesagt, sie solle sich nun vom ihm verabschieden.

Sie hatte nicht anders gekonnt, als zu rennen.
Irgendwann war sie beim Schwanenstein angekommen.
Das Wasser war ihr so friedlich erschienen. Es hatte Clara gelockt.
Die Befreiung aus ihrem Alptraum war in greifbare Nähe gerückt.
Die Freiheit des Meeres.

© Juliane Goetzke (9e)

Der Schwanenstein vor Lohme/ Rügen; Foto © Andreas Borchert

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